Das Team - Andreas Eilers

Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. Hier im Interview: Andreas Eilers, Experte für die Selbstorganisation agiler Teams in Bremen.

Andreas Eilers ist Experte für die Selbstorganisation in agilen Teams. Zusammen mit seinem Unternehmen „Open Agile“ unterstützt er Menschen, Teams und Organisationen dabei, zu einer stimmigen und wertschätzenden Zusammenarbeit zu finden.

Was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen?

Um Selbstorganisation zu verstehen, braucht man kein Buch zu lesen. Wer eine Familie hat, der weiß bereits, was Selbstorganisation ist. Dort findet Selbstorganisation tagtäglich von morgens bis abends statt. Also ist Selbstorganisation unserem Leben inhärent, wie auch das Ein- und Ausatmen. Denn in der Natur organisiert sich jedes System selbst.

Auch Organisationen, Teams und Individuen haben sich schon immer selbst organisiert. Aber halt nur in dem Maße, wie es ihnen eine gegebene Struktur erlaubt. So sind viele Mitarbeitende frustriert, wenn Ihnen Selbstorganisation durch unsinnige oder nicht nachvollziehbare Strukturen schwer gemacht wird. Werden vorgegebene starre Strukturen allerdings durch stimmige Rahmenwerke ersetzt, wird Selbstorganisation automatisch stattfinden.

Was verstehen Sie unter Selbstorganisation?

Selbstorganisation beruht im Grundsatz auf soziokratischen Werten: Selbstverantwortung, partnerschaftlicher Umgang auf Augenhöhe, Transparenz, Fairness und Gleichwertigkeit aller Beteiligten. Das fordert allerdings von allen Mitarbeitenden eine hohe fachliche – und vor allen Dingen soziale Kompetenz. Und den Willen, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln. Von der Organisation verlangt das, ein hohes Maß an Befähigungsangeboten bereitzustellen. Empowerment wird ein neuer Supertrend im 21. Jahrhundert sein.

Gibt es weitere Kontexte, in denen Selbstorganisation thematisiert wird und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen?

Neben der Selbstorganisation in Unternehmen mit Ziel der Gewinnmaximierung kann man Selbstorganisation auch sehr gut in Familien, Vereinen oder Freundeskreisen entdecken. Auch hier gibt es verschiedene Rollen und Hierarchien. Diese sind allerdings nicht top-down vorgegeben, sondern sie entwickeln sich von selbst und können sich sinnvoll und flexibel an Veränderungen anpassen.

Möchten beispielsweise vier Freundinnen gemeinsam in den Skiurlaub fahren, haben sie ein gemeinsames Ziel. Das macht sie zu einem Team. Hier übernehmen die vier Freundinnen unterschiedliche Aufgaben und die jeweilige Verantwortung dafür. Eine fährt das Auto, die andere übernimmt die Führung für die Fahrt. Die Dritte verwaltet die gemeinsame Urlaubskasse. Die Vierte ist vielleicht die beste Skifahrerin und coacht ihre Freundinnen. Auch hier gibt es Führung und Verantwortung. Im nächsten Jahr kommt eine fünfte Freundin mit in den Urlaub. Jetzt müssen die Rollen neu verhandelt werden.

Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich?

Im Unternehmenskontext ist der Begriff hilfreich, um ein wichtiges Thema zu verdeutlichen. In welchem Maße organisieren sich Teams selbst respektive was hindert sie daran? Andere Begriffe wie Selbstführung sind eher irreführend, da zumindest die disziplinarische Führung immer bei der Unternehmensleitung, also beim Vorstand oder der Geschäftsführung, verbleibt. Hingegen ergeben sich fachliche Führung vor allem aus der jeweiligen Fachkompetenz, die prozessuale Führung aus der jeweiligen Methodenkompetenz. Diese Führungsrollen entwickeln sich am besten selbstorganisiert aus der jeweiligen Aufgabenstellung.

Wofür wäre Selbstorganisation eine Lösung?

Selbstorganisation macht überall dort Sinn, wo sich Organisationen, Teams und Individuen immer wieder schnell und flexibel an ihre sich stetig verändernde Umwelt anpassen müssen. Aus meiner Sicht werden schwerfällige Organisationen, die auf Hierarchien und starre Machtstrukturen setzen, langfristig wenig Erfolg haben. Setzen Organisationen allerdings auf Nachhaltigkeit und Langlebigkeit, kann Selbstorganisation eine Lösung sein, um diese Ziele zu erreichen.

Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation?

Das Gegenteil von Selbstorganisation ist Fremdorganisation. Eine Organisation, die für diejenigen, die es betrifft, nicht stimmig und änderbar ist. In einer solchen Organisation fühlen sich Mitarbeitende fremdbestimmt und machtlos. Diese Form der Organisation erzieht Menschen zur Unselbständigkeit und zum Nichtmitdenken. Irgendwann wollen Mitarbeitende dann nichts mehr ändern und denken über unsinnige und unstimmige Strukturen nicht mehr nach. Das aber ist für jedes Unternehmen fatal, welches sich in einem dynamischen Wettbewerb befindet.

Hat Selbstorganisation Grenzen?

Selbstorganisation im unternehmerischen Kontext hat Grenzen. Das wird unter anderem im Gesellschaftsrecht klar definiert. Beispielsweise können in einer GmbH die Mitarbeitenden keine neuen Kolleginnen und Kollegen einstellen oder Immobilien erwerben. Selbstorganisation muss daher subsidiär geregelt werden. Dabei beruht Subsidiarität auf den Prinzipien von Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und der Entfaltung individueller Fähigkeiten. Demnach können übergeordnete Instanzen wie der Vorstand oder die Geschäftsführung ausschließlich dort eingreifen, wo die Möglichkeiten und Kompetenzen von Teams und Individuen nicht ausreichen, um die anstehenden Aufgaben zu lösen.

Die Frage gewendet: Werden Selbstorganisation Grenzen gesetzt? Gibt es – in der Gesellschaft, in Unternehmen und anderen Organisationen – Barrieren, Hemmnisse und Restriktionen, die Selbstorganisation blockieren oder einschränken?

Inwiefern der Selbstorganisation Grenzen gesetzt werden, darüber entscheiden die Geschäftsführung oder der Vorstand sowie die Rechtsprechung. Oftmals werden starre hierarchische Strukturen installiert, um Selbstorganisation zu verhindern. Die Gründe für die Verhinderung von Selbstorganisation sind vielfältiger Natur:

  • Angst vor Veränderungen, die als Gefahr gesehen werden
  • Angst vor unbekannten, neuen Organisationsformen
  • Angst, dass vorgegebene Ziele nicht mehr erreicht werden
  • Angst vor dem Verlust von Kontrolle: „Dann macht ja jede/r was er/sie will“
  • das Bedürfnis, Macht über andere Menschen auszuüben
  • Streben nach Status und Anerkennung
  • und anderes mehr

Organisationen, die Selbstorganisation zulassen, haben dagegen ein tiefes Vertrauen in ihre Kolleginnen und Kollegen. Der Vorstand oder die Geschäftsführung wissen, dass die allermeisten Mitarbeitenden im Sinne des Unternehmenszwecks produktiv sein wollen. Oftmals sind es aber genau diese starren Strukturen, die dieses Bedürfnis irgendwann im Kein ersticken.

Können Menschen Selbstorganisation?

Menschen organisieren sich grundsätzlich selbst und sind von Natur aus Weltmeister der Selbstorganisation. Doch bereits in der Schulzeit wird damit angefangen, Selbstorganisation abzutrainieren. In hierarchisch geprägten Unternehmen setzt sich dieser Prozess dann fort, bis Menschen sich nicht mehr selbst organisieren können oder wollen. Das ist insbesondere dann fatal, wenn sich Organisationen in einem dynamischen Wettbewerb befinden. Möchten Organisationen diesen Prozess umkehren und Menschen wieder zum Selbstdenken animieren, dann gehört dazu wie gesagt ein breites Angebot an Weiterentwicklungsmöglichkeiten – also Empowerment – und die herzliche Einladung an alle Mitarbeitenden, sich an dieser Transformation zu beteiligen. Unabdingbar dafür ist aus meiner Sicht die Auflösung aller starren Hierarchieebenen.

Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung?

Viele Organisationen wollen den Mehrwert von Selbstorganisation zwar nutzen, aber weiterhin an ihren starren Strukturen festhalten. Die Angst vor dem Unbekannten ist meist größer als der Schmerz, den zu starre Strukturen jeden Tag aufs Neue erzeugen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir auf Organisationsebene kurz davor sind, den Wendepunkt zu erreichen. Dann wird der Schmerz so groß sein, dass die Neugierde und Freude auf neue innovative Strukturen überwiegt und die Angst überwunden werden kann. Eine aus eigenem Antrieb professionell eingeleitete Transformation zur selbstorganisierten Netzwerkorganisation ist dabei kostengünstiger als eine hastige, von externen Faktoren erzwungene.

Woran lässt sich dieser Bedeutungszuwachs festmachen?

Die neuen digitalen Lösungen machen es möglich, Kundenbedürfnisse schneller und besser zu befriedigen. Organisationen merken, dass sie mit den traditionellen Organisationsformen nicht weiterkommen. Junge Startups mit ihren flachen Hierarchien und flexiblen Strukturen besitzen die nötige Wendigkeit und Flexibilität, um sich an die sich immer schneller verändernde Umwelt anzupassen. Strukturen und Prozesse befriedigen dort nicht das Unternehmens- sondern das Kundenbedürfnis. Wenn die Kreativität aller Mitarbeitenden gleichermaßen wertgeschätzt wird und sich das auch in der Organisationsform widerspiegelt, dann haben diese Unternehmen das entscheidende Ass im Ärmel – das gesamte Potential ihrer Belegschaft.

Sollte es mehr Selbstorganisation geben?

Da Selbstorganisation per se in der Natur des Menschen liegt, braucht es nicht mehr Selbstorganisation, sondern einfach weniger vorgegebene und behindernde Strukturen. Menschen und Teams in Organisationen sollten die Möglichkeit besitzen, Prozesse, Strukturen und ihre Zusammenarbeit immer wieder auf Stimmigkeit zu überprüfen. Nur so kann für die Kundin und den Kunden schnell und flexibel das beste Ergebnis erzielt werden.

Welche sind die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation?

Müssen individuelle Entscheidungen oder Teamentscheidungen immer wieder durch höhere Instanzen abgesegnet werden, ist dies meist mühselig und frustrierend. Insbesondere, wenn es um Kundenbedürfnisse geht, die schnell und flexibel befriedigt werden sollen. Sehen Mitarbeitende zudem, dass Entscheidungen nicht nur „von Oben“ abgesegnet werden müssen, sondern dort von Personen getroffen werden, die nicht die nötige Fachexpertise besitzen, wirkt dies demotivierend. Irgendwann werden dann Probleme und Herausforderungen gar nicht mehr angegangen, Innovationen versiegen und eine „Es ist so, wie es ist“-Mentalität macht sich breit. Kurzum: Die größten Hemmnisse für Selbstorganisation sind meiner Meinung nach nicht stimmige Entscheidungsprozesse und mangelnde Entscheidungskompetenzen der Belegschaft.

Welche Bedeutung hat Selbstorganisation ganz konkret für Sie und Ihre Arbeit?

Selbstorganisation hat für mich persönlich eine besondere Bedeutung, da wir mit unserem Unternehmen „Open Agile“ Organisationen, Teams und Individuen dabei unterstützen, selbstorganisiert zusammenzuarbeiten. Daraus ist mein Buch Crashkurs Selbstorganisation in agilen Teams entstanden, das dabei unterstützen will.

Welche Frage stellen Sie sich selbst zur Selbstorganisation?

Ich frage mich oft selbstkritisch, welche Vorteile Organisationen haben, nicht selbstorganisiert zusammenzuarbeiten. In Diskussionen erfahre ich überwiegend Zuspruch, höre manchmal aber auch Vorurteile gegenüber Netzwerkorganisationen oder Unwahrheiten. Aber es gibt keine Evidenz dafür, dass hierarchisch geprägte Unternehmen erfolgreicher sind als selbstorganisierte Netzwerkorganisationen. Wir alle sollten unsere Strukturen hinterfragen und Experimente wagen. Da nehme ich mich gar nicht aus. Im Grunde sind alle Mitarbeitenden Führungskräfte und können Initiatoren innovativer Ideen sein.

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